Ein Gespräch mit Erica Castelli

Ein Gespräch mit Erica Castelli
Erica Castelli ist unsere heutige Gesprächspartnerin. Eine Gesprächspartnerin, welche die Valle Maira in- und auswendig kennt und in diesem urigen Alpental ihre Wurzeln hat.

Erica Castelli ist unsere heutige Gesprächspartnerin. Eine Gesprächspartnerin, welche die Valle Maira in- und auswendig kennt und in diesem urigen Alpental ihre Wurzeln hat. Auch wenn Erica mittlerweile in Mailand lebt, wo sie als Designerin und Art Direktorin arbeitet, verbringt sie noch viel Zeit in diesem von ihr innig geliebten Tal. Zusätzlich betreibt sie die Internetseite inValMaira.it.

Wir sind neugierig und gespannt mehr über ihre Liebe zum Tal zu erfahren und freuen uns darauf nachzufragen, was sie ihrer Heimat und uns für die Zukunft wünscht.

Liebe Erika, wir kennen uns mittlerweile seit einigen Jahren und ich weiß, dass dich starke Wurzeln mit der Valle Maira verbinden. Du bist z.B. die Tochter und Enkelin von Acciugai, den berühmten Sardellen-Händlern der Valle Maira. Könntest du uns ein wenig mehr über deine Herkunft und Wurzeln erzählen?
Hallo Renato, als erstes möchte ich mich bei dir bedanken, dass du mir die Möglichkeit gibst über dieses Tal zu sprechen. Das Tal, welches ich so tief in mir spüre und mich so stark geprägt hat.

Du hast vollkommen recht, meine ganze Familie kommt aus der Valle Maira und ich bin die Tochter, Enkelin und sogar Urenkelin von Acciugai. Mein Bruder treibt diese Arbeit heute noch immer voran – eine Arbeit, die hart und anstrengend ist, aber auch bereichernd.

Diego Crestanti, ein wahrer Kenner und Erzähler der Geschichte der Acciugai der Valle Maira würde sagen, dass durch unsere Adern Salz läuft. Die erste Frage, welche er von Nicht-Kennern der Geschichte der Acciugai gestellt bekommt ist, „Wie ist es denn überhaupt dazu gekommen, dass ein Bergvolk begonnen hat mit Meeresfischen zu handeln?“

Die Antwort liegt in den harten Wintern der Valle Maira, in welchen die Einwohner sich einen anderen Einkommenszweig suchen mussten. Bereits 1835 (laut dem ältesten Dokument, welches von den Handelsaktivitäten der Acciugai der Valle Maira spricht) haben Einwohner der Valle Maira die bekannten „Salzwege“ benützt, um nach Ligurien zu gelangen, Salzfische an der Küste zu kaufen und mit diesen anschließend zu handeln.

Dabei darf man nicht vergessen, wie wertvoll Salz damals für die Menschen der Berge war. Salz galt eine Zeit lang als unauffindbar und war sogar Schmuggelware.

Eine Hypothese ist, dass die Taleinwohner selbst produzierte Leinwände verkauft haben – diese könnten mit Sardellen getauscht worden sein. So ist ein florierender Handel entstanden und viele Einwohner des Maira-Tales haben mit dieser Aktivität begonnen: sie haben gemeinsam große Mengen an Fisch in Genua gekauft und anschließend diese von Tür-zu-Tür in den großen Städten wie Turin, Mailand, Bergamo, Brescia, Pavia, etc. verkauft.

Und hier beginnt die Geschichte emotional zu werden, denn der Anekdoten habe ich viele von meinen Großeltern gehört. Einige dieser Erzählungen sowie weitere wertvolle Erinnerungen von alten Sardellen-Händlern des Tales, habe ich in diesem Video festgehalten. Das Video habe ich für die Gemeinde Dronero erstellt und es wurde während der bekannten Messe der Acciugai vorgestellt: https://youtu.be/HaTkDhtrUK0 (Video auf italienisch). Einen Besuch des wunderschönen Museums „Museo Seles“ in Celle di Macra empfehle ich allen Besuchern der Valle Maira.

Meine Wurzeln sind nicht nur „salzig”, sondern erinnern mich auch an Erde und Heu. Ich hatte das Glück meine Großeltern und Urgroßeltern, alles Landwirte, zu kennen und ihre Liebe und den Respekt gegenüber den Böden zu erfahren. Gerne würde ich heute als Erwachsene wieder mit ihnen sprechen – ein Großteil ihrer Weisheiten ist mittlerweile leider verloren gegangen.

Klammer auf: Viele Personen, die ich kenne, sind durch die Pandemie wieder „zurück zur Erde“ gekehrt und versuchen einen gesünderen, vielleicht sogar „spirituelleren“ Umgang mit der Natur zu finden. Deswegen fände ich es wichtig, eine Brücke des Dialoges mit unseren Älteren zu schlagen: um nicht unwiderruflich ihren Wissensschatz zu verlieren und um diesen heute wieder anwenden zu können. Natürlich in einer aktualisierten und moderneren Form.

Du pflegst die Seite inValMaira.it und arbeitest auch als Grafik-Designerin für das Consorzio Turistico Valle Maira. Was fasziniert dich so an der Valle Maira, und wie wichtig ist dir an der Entwicklung des Tales teilzunehmen?
„Valle Maira“ zu sagen ist für mich wie „Herkunft“ oder „Wurzeln“ zu sagen. Die Valle Maira ist für mich wie eine Mutter, zu der ich immer wieder zurückkehre. Und wie ich so oft wiederhole: irgendwann komme ich für immer zurück. Die Valle Maira ist für mich auch immer wie ein kleines Wunder. Bei jedem Schritt durch das Tal empfängt mich der Duft von herrlichen Dingen und ein Gefühl der Freiheit und des Friedens. Hier fällt für mich alles an seinen richtigen und natürlichen Platz.

Vor einigen Jahren habe ich mir vorgestellt, eine Webseite für dieses Tal zu machen. Damals gab es nämlich noch keine und ich habe mich schließlich entschieden, das in die Hand zu nehmen. Nach einem Jahr der Recherche zwischen Büchern und Fotodokumenten sowie Nächten vor dem Computer, habe ich am 6. Juni 2012 voller Stolz und Emotionen die invalmaira.it Seite online geschaltet. Begonnen hat es als Spiel, geschenkt hat es mir unendlich viel. Das Tal ist nämlich wirklich ein Sammelspeicher voller Wissen, voller großzügiger, freundlicher und authentischer Menschen.

Mittlerweile ist die Seite in die Jahre gekommen und ich müsste sie eigentlich erneuern. Aber mittlerweile bin ich selbstständige Designerin und habe dadurch einfach weniger Zeit. In dieser Position darf ich allerdings auch das Consorzio Turistico unterstützen. Gerade erarbeiten wir gemeinsam daran, eine wunderschöne neue Webseite für das Tal zu erstellen. Vielleicht ist es ja auch Zeit für inValMaira.it in Pension zu gehen? Schauen wir, wie sich alles entwickelt :-)

Weiter entwickelt hat sich auch die Valle Maira. Durch den Erhalt seiner Wildheit und Unberührtheit unterscheidet sie sich zunehmend von anderen, stark erschlossenen Bergtälern. Was die Valle Maira vom Massentourismus und desaströsen Bauvorhaben in den 60iger und 70iger Jahren geschützt hat, war die spezielle und sehr lange Talform ohne sanfte Landschaften.

Aber geschützt hat die Valle Maira vor allem die Bevölkerung, die nach der Abwanderung in den 50igern im Tal geblieben ist und sie weiterhin geliebt und gepflegt hat. Viele der abgewanderten Taleinwohner haben die Valle Maira nie richtig verlassen und sind immer zurückgekommen, wenigstens für ein paar Monate im Jahr.

Meiner Ansicht nach ist es sicherlich möglich das Tal weiter zu entwickeln – touristisch aber vor allem sozial – ohne jemals zu vergessen, was unsere Ursprünge und unsere einzigartigen Charakteristiken sind.

Du hast es soeben angesprochen, dass sich die Valle Maira in den letzten Jahrzehnten stetig verändert hat. Welche Änderungen sind dir am meisten aufgefallen? Und was würdest du dir wünschen, sollte in Zukunft unbedingt gleichbleiben?
Ich bin 42 Jahre alt und kann bestätigen, dass sich das Tal in den letzten 30 Jahren stark verändert hat. Nichts im Leben bleibt ohne Veränderung. Das was wir hoffen dürfen ist, dass es Veränderungen zum Besseren hin sind. Leider ist es nicht immer so.

Ich kann mich erinnern, wie ich als Kind vor unserem Haus in Roccabruna gesessen bin, mit Blick auf goldene Kornfelder mit roten Mohnblumen und dem Weinberg am Ende des Feldes, in welchem meine Urgroßmutter ganze Tage verbracht hat. Heute befindet sich dort eine Industriezone.

Auf den Hochalmen haben wir im Sommer einige Monate mit dem Mähen von Heu für die Kühe verbracht, und sobald wir mit dem ersten Schnitt fertig waren, wurde mit dem zweiten begonnen – dieser wurde im Tal „l’Ariesa“ genannt. Heute sind diese Wiesen fast verschwunden, am Anfang verschluckt von Dornen und bald schon voller Bäume.

Natürlich haben sich auch die Klimaänderungen auf das Verhalten der Einwohner ausgewirkt. Die Winter in Roccabruna waren immer überaus schneereich. Mein legendärer Großvater Giuseppe, Kriegsheimkehrer aus Griechenland, dann Albanien und schließlich Russland, hat uns einen kleinen Weg ausgeschaufelt – ein wahrer Schützengraben. Heutzutage fallen vielleicht noch 10 Zentimeter Schnee.

Ich kann mich auch noch an den kleinen Weiler Allemandi di San Michele Prazzo erinnern, Herkunftsort meines anderen Großvaters. Als Kleinkind bin ich dorthin gefahren, um Verwandte zu treffen. Mein Großvater selbst hatte dort kein Haus mehr –ein Kaminbrand hatte seins vollständig zerstört und die weiteren Ereignisse haben ihn dann für die Arbeit nach Mailand gebracht. Die Häuser in Allemandi waren damals äußerst arm, mittlerweile hingegen ist der Ort renoviert worden und erstrahlt in neuem Glanz. Dort liegt auch der Agritursmo il Chersogno, der zugleich ein biologischer Betrieb mit Streichelzoo ist.

Ich glaube, dass ich die Valle Maira noch erlebt habe, als sie vor allem von der Landwirtschaft geprägt wurde. Und auch wenn sie sich jährlich geändert hat, hat sich die Valle Maira nie selbst betrogen und es irgendwie immer geschafft, ihre unberührte Schönheit beizubehalten.

Für die Zukunft würde ich mir wünschen, dass sich jede*r Besucher*in der Valle Maira – ob für einen halben Tag oder für viele Monate –immer daran erinnert, dass in diesem Tal ein großer Geist wohnt, welcher geehrt werden sollte.

Ich bin mir bewusst, dass das eine universelle Beobachtung ist: wir sind Gäste dieser Erde, nicht die Besitzer. Deswegen wünsche ich mir von jenen, welche Entscheidungen für die Zukunft des Tales treffen, dass sie die Seele des Tales berücksichtigen und verteidigen – wenn nötig auch gegen die Mehrheit, gegen die Ideen der Masse oder auf Anfrage des Marktes „im großen Stil“ hin.

Du sprichst die Zukunft der Valle Maira an, Erica. Der Tourismus wird ein immer wichtigerer Wirtschaftszweig. Wie siehst du diese Entwicklung? Und was wünschst du im Generellen der Valle Maira?
Während der 90iger ist eine neue Art des Tourismus ins Tal gekommen. Und meiner Meinung nach war das ein Geschenk des Himmels: einige haben umgebaut, Häuser gekauft, teilweise sogar ganze verfallene Weiler, und diese mit viel Sensibilität wieder hergestellt. Dabei haben sie das ursprüngliche Aussehen nicht zerstört, sondern bei der Renovierung mit den einzigartigen Charakteristiken der Architektur des Tales aufgewertet. Wer jetzt ins Tal kommt macht zugleich eine Zeitreise zurück in längst vergangene Tage. Und dann besuchst du eine dieser Strukturen und dir wird jeglicher Komfort geboten. Es ist wirklich außergewöhnlich was hier geleistet wurde.

Daraufhin haben weitere Personen ins Tal investiert und sich ins System integriert, ja dem sozialen Leben neue Energie gegeben. Ich kann z.B. die Aktivitäten von „De Lou Puy la Chabrochanto“ erwähnen: eine ganze Familie hat sich entschieden in einen Weiler zu ziehen, der halb verlassen und vom Krieg zerstört war. Durch finanzielle Beihilfen für alle Häuser des Weilers wurde das Unmögliche möglich: ein Weiler voller neuen Lebens, zahlreichen Aktivitäten und mit Jugendlichen, die sich entschieden haben zu bleiben.

Der Tourismus hat einen wichtigen Einfluss auf das Tal, man kann es nicht anders ausdrücken. Meiner Ansicht nach wäre es wichtig eine langfristige Version zu erstellen und ein Netz aus Politik, Gesellschaft, Tourismus, Wirtschaft und Kultur zu bilden. Science-Fiction? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht, zumindest für unsere Valle Maira.

Das Territorium respektieren, den Blick nach vorne richten, uns dabei immer auf unsere Wurzeln zurückbesinnend: das wäre für mich langfristig das Wichtigste und zugleich auch mein Wunsch für die Valle Maira.

Als Kennerin und Liebhaberin der Valle Maira: Was sind deine Top 3 Insider-Tipps? Was muss jede*r Besucher*in der Valle Maira unbedingt sehen und erleben?
Wenn jemand das erste Mal in die Valle Maira kommt, versuche ich als erstes zu verstehen, was für ein Erlebnis gesucht wird und gebe dann spezifische Empfehlungen.

Denn die Valle Maira hat wirklich für alle etwas zu bieten: für Familien mit Kindern, Einzelreisende und Ruhesuchende, Freundesgruppen oder Pärchen, für Intellektuelle und Sportler.

Ich muss mich wirklich ordentlich anstrengen, gebe dir aber gerne folgende drei Insider-Tipps mit, die ich nie in der Valle Maira missen möchte:

  • Das Einatmen des gefrorenen Wasserdampfes der majestätischen Wasserfälle von Stroppia im Frühling. Die Wasserfälle sind die höchsten Italiens, ein wahres Naturschauspiel.
  • Eine der vielen Touren im Hochtal inklusive Übernachtung in einer typischen Unterkunft, um die Milchstraße so klar wie noch nie und in vollkommener Ruhe zu erleben.
  • Ein Besuch in Elva mit den wunderschönen Fresken der Kirche sowie dem Haarmuseum an der „Orrido d’Elva“ Straße gelegen. Mittlerweile kann man diese nicht mehr betreten, sie bleibt allerdings sehenswert: eine historische Straße mit der Hand aus dem Felsen geschlagen.

Und dann würde ich mir selbst versprechen, so bald als möglich wieder zurück in die Valle Maira zu kommen :-)

Abschließend, haben wir eine Frage vergessen / möchtest du unseren Leser*innen noch etwas mit auf den Weg geben?
Denjenigen, welche die Geduld aufgebracht haben bis zum Schluss meine Liebeserklärung an die Valle Maira zu lesen, möchte ich meinen Dank aussprechen und einen tollen Aufenthalt in der Valle Maira wünschen.

Renato wird euch bestens versorgen, er hat das Herz am rechten Fleck und wird euch in seinem antiken Bauernhaus aus dem 18. Jahrhundert willkommen heißen. Ein Bauernhaus, welches er mit vollem Respekt für die Architektur, die Kultur und die Valle Maira im generellen renoviert hat. Als Bergführer seit mehr als 20 Jahren, kann er euch die natürliche Schönheit der Valle Maira zeigen. Und wenn ihr dann nach einer Tour wieder in die Locanda zurückkommt, wird seine Partnerin Manuela euch mit ausgezeichneten kulinarischen Genüssen verköstigen.
 

Über Erica Castelli:
42 Jahre alt, lebt und arbeitet
als selbstständige Art-Direktorin in Mailand, mit starken Wurzeln in der Valle Maira - ihrer Heimat und bevorzugter Rückzugsort. Enkelin und Tochter von Landwirten und den bekannten Acciugai (Sardellen-Händlern), hatte sie das Glück die Rhythmen dieses schönen und unberührten Tales zu erleben.

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