Heute freue ich mich sehr, ein Gespräch mit Giovannino Massari zu führen. Giovannino klettert seit über 40 Jahren und ist Zeuge der Entwicklung des Klettersports in Italien. Er hat unzählige neue Kletter-Linien erkannt und eröffnet sowie natürlich „erklettert“. Unter anderem war und ist er auch in der Valle Maira, am Klettermassiv der Castello-Provenzale-Gruppe, sehr aktiv. Heute sprechen wir mit Giovannino über seine Passion fürs Klettern, die Valle Maira und seine Lieblingstouren vor Ort.
Lieber Giovannino, danke dass du dir für dieses Gespräch Zeit nimmst. Könntest du bitte unseren Leser*innen kurz mehr über dich erzählen? Wie bist du zum Klettern gekommen? Wie hast du diese Passion entdeckt?
Klettern war für mich ein ganz natürlicher Prozess, um mich auszudrücken. In meiner Kindheit habe ich in einem Berggebiet in engem Kontakt zur Natur, dem Wald, den Pflanzen gelebt. Nach oben zu gehen und zu klettern waren meine alltäglichen Beschäftigungen.
Ich glaube, der Wunsch mich immer weiter zu pushen, weiter ins Unbekannte und an meine Grenzen zu gehen, war immer in mir und hat mich zum Klettern gebracht. Beim Klettern habe ich mich sofort wohlgefühlt - bei der Aktivität selbst sowie auch in meinem Streben nach immer größeren Herausforderungen.
Die Passion fürs Klettern ist mit der Praxis gewachsen und hat mich so eingenommen, dass das Klettern für mich mein Lebensstil wurde. Diese starke Leidenschaft hat mich dazu gebracht, ein Leben im Zeichen des Aufstiegs in 360° zu leben: Fels, Eis, Sportklettern, Bouldern, Free Solo, die Eröffnung neuer Kletterwege im traditionellen und sportlichen Stil und auch, mit großer Freude, die Ausarbeitung von einigen Kletterführern, von welchen der erste natürlich jener der Castello-Provenzale-Gruppe war.
Die Valle Maira ist ein wahres Paradies für Kletterer und ich bin gerade dabei, einen Kletterführer für das Tal mitzuentwickeln. Wie hast du die Valle Maira entdeckt? Was gefällt dir hier?
Die Valle Maira habe ich bereits als Jugendlicher Ende der 70iger auf Wandertouren entdeckt. Damals habe ich noch davon geträumt, diese beeindruckenden Wände der Castello-Provenzale-Gruppe zu erklettern. Später sind sie zum Ziel unzähliger „Pilgerfahrten“ geworden.
Ich habe das Gefühl in einer Umgebung zu sein, welche mich in eine andere Zeit versetzt, immer geliebt. Und dieses einzigartige Gefühl, dass die Zeit stehen geblieben ist, konnte man in der Valle Maira immer einatmen: im unberührten Weiler von Chiappera, wie auch die gute Felsqualität der Castello, die ein traditionelles absichern zulassen. Natürlich darf man nicht vergessen, dass ich mit viel ethischer und stilistischer Strenge in diesen Felswänden agiert habe, um sie nicht zu beschädigen und auch den nach mir folgenden Kletterern eine wahre Perle der Schönheit der traditionellen Kletterei zu hinterlassen.
Und ich beziehe mich hier in primis auf den großartigen Sergio Savio und seine unvergesslichen Realisierungen.
Um in der Valle Maira zu bleiben: Kannst du mit unseren Lesern*innen deine Lieblingstouren teilen?
Im Laufe der letzten Jahre und vielleicht auch richtigerweise, hat sich das Klettern in der Castello-Gruppe „vereinfacht“ und es sind gesicherte Routen mit Bohrhaken entstanden.
Meiner Meinung nach ist das richtig und erhöht die Freude und die Zugänglichkeit der Gruppe, ohne dabei den nötigen Einsatz und die richtige Vorbereitung zu untergraben, welche für die schwierigsten traditionellen Kletterwege immer noch nötig sind. Sagen wir, Klettern ist demokratischer geworden und es gibt Platz für alle.
Um zu meinen Lieblingsrouten zurück zu kommen: es sind deren viele und viele sind wirklich interessant. Zwei Routen, die man auf keinen Fall verpassen sollte sind meiner Meinung nach: der klassische Spigolo Castiglioni zum Castello-Turm – perfekter Fels und eine unglaublich Routenführung für die damalige Zeit (wir sprechen von den 30igern). Sowie auch die großartige Route der gleichnamigen Eröffner der Bonino-Perino-Girodo-Route im Osten der Rocca Provenzale.
Wenn wir bei den schwierigeren Kletterrouten bleiben, sind für mich ebenso großartig die Super Figari, die Via dei Passeri, die Super GAM, der Corvo Bianco und der Spigolo di Heidi. Einige dieser Routen sind selber abzusichern und andere teilweise neu einzurichten.
Gibt es eine Tour in der Valle Maira auf die du besonders stolz bist? Und warum?
Ich würde sagen, dass es zwei Touren gibt, auf die ich besonders stolz bin. Eine Tour ist L’orologio senza tempo, welche ich gemeinsam mit Andrea Parodi erschlossen habe als ich 20 Jahre alt war und das mit nur drei Haken und ansonsten ausschließlich mit Klemmkeilen. Die zweite Tour ist die Via dei Passeri, welche eine alte Kletterroute aus der Zeit der technischen Kletterei ist. Ich habe es geschafft diese, Rotpunkt zu klettern. Zurückblickend waren diese zwei Touren wirklich sehr bereichernd und noch heute sind es wunderschöne Erinnerungen.
Klettern hat sich in den letzten Jahren zu einer Trendsportart entwickelt. Wie siehst du diese Entwicklung? Und was erwartest du für die Zukunft?
Ja sicherlich hat sich das Klettern zu einem Massensport entwickelt. Aber ich würde sagen, dass vor allem das Sportklettern und das Bouldern für viele Menschen interessant und zugänglich geworden sind. Die Jungen können sich dabei mit ihrem vollen Potenzial und im Rahmen von relativer Sicherheit entfalten. Die nicht gesicherten Mehrseillaengenrouten, auch wenn nicht auf höchstem Niveau, sind noch immer die Domäne einer Minderheit von Experten und Enthusiasten.
Ich denke, dass die Entwicklung des Sportkletterns und des Boulderns äußerst positiv ist, und zwar in vielerlei Hinsicht. Denken wir nur an den erzieherischen und auch an den sportlichen Aspekt.
Es sind Aktivitäten, die dich stark antreiben dich ständig zu verbessern und im gleichen Moment zeigen sie dir deine physischen und psychischen Grenzen auf. Ich glaube auch, dass wenn jede*r, wie beim Klettern, seinen Schritt nicht länger machen würde als möglich, sondern sich mit der nötigen Vorbereitung nur soweit vorwärts begibt wie es ihm effektiv möglich ist, die Welt ein besserer Ort wäre.
Für die Zukunft erwarte ich mir, dass diese Entwicklung einen respektvollen Umgang mit der Natur zu Tage legt. Und dass man Orte wie die Valle Maira durch das Sportklettern und Bouldern noch weiter aufwerten und erschließen kann, da es hier noch beträchtliches Potenzial gibt.
Abschließend, was möchtest du unseren Lesern*innen mit auf dem Weg geben?
Abschließend wünsche ich mir, dass das Klettern allen das gibt, was es mir gegeben hat. Ich habe mich immer bemüht, bin viel geklettert und das Klettern hat mir eine eigene Welt zurück gegeben: eine gesündere Art zu leben, ein Körper, der noch in Form ist und wunderschöne Erinnerungen an einmalige Abenteuer. Aber was am meisten zählt, dass mit fast 60 Jahren die tägliche physische Bewegung mit den immer gleichen und doch immer verschiedenen Bewegungen, mir einen wahren Seelenfrieden gibt… auch an den dunkelsten Tagen.
Über Giovannino Massari: Giovannino kommt aus Carrù im Piemont, ist Professor der Naturwissenschaften und passionierter Kletterer seit mehr als 40 Jahren. Bereits 1985 war er einer der vielversprechendsten Kletterer der jungen Generation.